Vom Mädchen zur Frau
Ohne Ausnahme
Ingó erklärte mir: Wannit macchina warrita. Das bedeutet: Frauen sind die Maschinen der Familie.
Rhythmus
Kind, Mädchen, Frau, Mutter
Der Arbeitsrhythmus der Arbore wird durch Tag und Nacht, Regen- und Trockenperioden bestimmt, der Rhythmus eines Menschenlebens durch die einzelnen Stufen der Sozialisation. Sie sind mit Kind – Junge/Mädchen – Ehemann/Ehefrau – Vater/Mutter unseren ausgesprochen ähnlich.
Säuglinge und Kleinkinder werden als morqo bezeichnet. Sie werden nicht als Individuum betrachtet. Ein Mädchen wird im Alter von ca. 3 Jahren als haraté bezeichnet. Für diesen Übergang gibt es kein Ritual. Mit der Stufe der haraté beginnt die Integration in den Arbeitsprozess, ebenso wie das Gebot, erst Scham und später den Po zu bedecken. Die leibliche Mutter wird, ebenso wie ihre Tanten, Cousinen oder älteren Schwestern, nur noch mit ingó angesprochen. Das bedeutet Schwester meiner Mutter, also Tante.
Irgendwann heiratet eine haraté. Manchmal ist es Liebe, manchmal ein Arrangement. Mit sud (Heirat), dem ersten und großen Übergangsritual, wird aus dem Mädchen eine Braut, ein Status, den sie viele Monate beibehält. Sie zieht zu ihren Schwiegereltern und wird dort geprüft, ob sie auch anständig und fleißig ist. Nach Monaten folgt das abschließende Hochzeitsritual min gussin (Hausbau). Nach der stark ritualisierten Hochzeitsnacht wird die Braut schließlich als sallé (Ehefrau) bezeichnet. Sie wird jetzt ege hanni, Mutter der Kleinsten gerufen. Das sind Vorschusslorbeeren auf das, was sie bald sein wird.
Tradition
Einsichten
Das Beschneiden des weiblichen Genitals war bei den Arbore ein alteingesessenes Ritual, um den Übergang vom unverheirateten Mädchen zur Braut zu kennzeichnen. Die Operation war die Normalität, nicht angezweifelt oder gar kritisiert. Keiner der von mir Befragten, weder Männer noch Frauen, stritt den gewaltigen Schmerz, die Angst und das Mitleid mit Tochter, Schwester oder Freundin ab. Eine Eliminierung aus ihren kulturellen Gepflogenheiten schien jedoch fast allen unvorstellbar. Was sollte sonst Mädchen von Frauen, Ehrbare von Huren, Starke von Schwachen oder Arbore von Fremden unterscheiden?
Traditionen und Rituale sind in keiner Gesellschaft etwas Statisches. Sie unterliegen einem steten sozialen Wandel. Wir erfahren Neues, vergleichen, werten und denken um. Deshalb liegt die große Chance in der Veränderung des FGC – Rituals, nicht in dessen Verbot.
Die Arbore haben diese Chance genutzt. Am 20. Oktober 2013 haben sie gemeinschaftlich, nach weit mehr als einem Jahrzehnt des Dialogs, auf einer großen Veranstaltung im Beisein der lokalen Medien das Schneiden während des Hochzeitsrituals offiziell abgeschafft. Anstelle der Klitoris wird nun die Ohrspitze einer Ziege abgeschnitten. Das war ihre Entscheidung.
Grenzenlos?
Female Genital Cutting (FGC) wird weltweit in ca. 41 Ländern auf sehr unterschiedliche Art und Weise praktiziert. Der Eingriff ist Ausdruck der sozialen Kontrolle und Normierung. Über ihn wird die (meist spätere) Heiratsfähigkeit eines Mädchens gekennzeichnet. Die schmerzhafte Markierung ist verdeckt, irreversibel und eindeutig. Das Mädchen erhält allein dadurch die gesellschaftliche Zustimmung zu späteren sexuellen Aktivitäten.
Die Praxis, das weibliche Genital zu beschneiden, kennt keine Grenzen – weder geographische, religiöse noch soziale. Die einzige erkennbare Grenze ist die ethnische Gruppe selbst.
Prozentuale Verteilung FGC
Verteilung FGC nach Religion
Verteilung FGC nach AIDS-RATE
Legende Anteil FGC | ||
| 0 | |
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| < 5% |
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| 5% bis 30% |
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| 31% bis 80% |
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| 81% bis 100% |
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| stellenweise Infibulation (Regionen) |
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| überwiegend Infibulation (Staaten) |
Legende Religion | ||
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| Christentum – Islam – Indigen |
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| Christentum |
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| Christentum – Islam |
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| Christentum – Indigen |
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| Islam |
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| Islam – Christentum |
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| Islam – Indigen |
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| Indigen – Christentum |
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| Indigen – Islam |
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| ‚Band FGC‘ |
Legende AIDS-Rate | ||
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| 0 bis 1% |
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| > 1% bis 5% |
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| > 5% bis 10% |
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| > 10% bis 15% |
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| > 15% |
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| ‚Band FGC‘ |
Frauengespräche
A.P.: „Wieviel Rinder muss der Verlobte bezahlen?“
ingó: „Zehn Ziegen und Schafe gibt er an den Vater der Braut. Dazu kommen noch vier Rinder. Vier weitere Rinder werden in der Familie der utanté verteilt. Während der sud – Zeremonie werden alle acht Rinder geschlachtet. Der Vater erhält vier Sack Kaffee. Der Clanälteste bekommt 20 Kalebassen Honig, aus dem später daadi [eine Art Met] gebraut wird. Der Verlobte muss seiner Braut goldene [Messing] Armreifen für die Oberarme kaufen.“
A.P.: „Wann ist kandiy [das Schneiden]?“
ingó: „Am Nachmittag, denn nachts wird geschlachtet. Schau, dort meine Freundin Go’o hat die utanté Gallé geschnitten.“
A.P.: „Wieso Go’o? Ist sie eine Beschneiderin? War ihre Mutter Beschneiderin?“
ingó: „Go’o ist Beschneiderin. Ihre Mutter hat nicht geschnitten. Wir Frauen der Arbore lernen das Schneiden durch Zusehen und diejenigen, welche keine Angst haben, werden Beschneiderin. Sie sagen es einfach. Das Dorf Gondarab hat vier Beschneiderinnen.
A.P.: „Erzähle von dem Brauch der utanté! Was passiert da?“
ingó: „Kandiy ist hier im Haus der Braut, hier in der bara. Es ist alles voll, voll mit Menschen. Mit Frauen. Die Mutter geht weg, weit weit weg. Sie beeilt sich, sie hat Angst. Die Nachbarinnen halten die Braut fest. Die Braut trinkt daadi, die Festhalterinnen trinken. Dann trinkt auch die Beschneiderin. Die Braut ist vom daadi betrunken. Harraké [hochprozentiger Schnaps] aber ist schlecht. Ihr wird ein Tuch über den Kopf gestülpt, über den Mund, damit das Weinen nicht zu hören ist. Die Hütte ist voller Mädchen und Frauen. Sie singen laut und trinken daadi.“
A.P.: „Sitzt die Braut auf der Erde?“
ingó: „Nein, sie sitzt auf diesem kleine Stuhl, die Beine nach vorne.
A.P.: „So? (Ich setze mich auf den Hocker und grätsche die ausgestreckten Beine)
ingó: „So, ja genau so. (Lachen) Zu einer Nachbarin: „Schau mal, ege Till weiss, wie sie sich setzen muss!“ „Die Arme werden hinten festgehalten.“
Ingó und die Nachbarin demonstrieren es an mir. Mittlerweile haben sich Kinder und andere Nachbarinnen in der Hütte eingefunden, Es ist, als ob wir ein Bühnenstück aufführen.
A.P.: „Was macht ihr mit dem abgeschnittenen Fleisch, mit hooli [Klitoris, das Nackte]?“
ingó: „Neben der Feuerstelle in der bara ist ein Loch. Das ist das Grab von hooli. Die Braut sitzt mit ausgestreckten Beinen vor dem Loch und hooli und Blut fallen in das Grab.“
A.P.: „Haben die Mädchen Angst?“
ingó: „Ja, sie rennen weg. Aber sie kommen wieder. Jede will doch heiraten. Alleine da draußen würde sie sterben oder fuuga [eine Schlampe m.E.] werden.“
A.P.: „Was passiert nach dem Schneiden?“
ingó: „Der Schnitt wird geprüft. Danach gehen alle uta in das Haus des Clanältesten. Nur die neue eine Braut wird in die Hütte ihrer Schwiegereltern getragen. Einen Monat lang geht sie nicht aus dem Haus. Die Beine werden ihr zusammengebunden, damit die Wunde gut heilt. Ihre Exkremente werden in der Hütte vergraben. Danach ist Schlachten und Tanz. Alle uta sind betrunken. Sie schlagen die Rinder des jungen Ehemannes (…)
Tagebuch der Feldforschung 11. April 1999, Auszug aus: Chiffrierte Körper – Disziplinierte Körper (Diss.)
4 Seiten
Alltag und Rituale